Wir befinden uns auf einer Landstraße im Norden von Bosnien und Herzegowina, etwa eine halbe Stunde Fahrt von einem kleinen Dorf namens Šamac entfernt. Es regnet in Strömen. Die Abwasserkanäle können das Wasser nicht mehr aufnehmen, es fließt zurück auf die Straße. Autos spritzen sich gegenseitig Wasser auf die Windschutzscheiben. Für eine Sekunde sehen wir nur eine weiße Wasserwand, die uns die Sicht vollkommen nimmt. Es muss wohl vor drei Monaten genauso begonnen haben, als über 75.000 Haushalte im Norden und Osten des Landes von schweren Regenfällen überschwemmt wurden.
In Šamac hinterließ das Hochwasser eine enorme Verwüstung. Noch ist keine einzige Person auf den Straßen zu sehen. Die Fenster und Türen der Häuser sind weit geöffnet, Wohnzimmer und Küchen stehen leer, kahle Wände zeigen braune Schlammstreifen. Auf manchen Straßen stieg das Wasser bis zu drei Meter. Seitdem das Wasser abgelaufen ist, gleicht Šamac einer Geisterstadt. Hunderte mussten ihre Häuser verlassen; momentan kommen sie bei Verwandten oder in Herbergen unter.
Außerhalb des Stadtzentrums fanden 15 Menschen mit Behinderung in einer Volksschule Unterkunft. Manche sind blind; Andere sitzen im Rollstuhl oder leiden unter ernsten chronischen Krankheiten. Sie richteten ihre Schlafzimmer in ehemaligen Klassenzimmern ein. Der Ort ist mit Betten und unzähligen Stühlen mit gestapelter Wäsche gefüllt. Vor einem der Betten steht Sakiba. Sie ist 69 Jahre alt. Seit Jahren leidet sie an gravierendem Diabetes. Sakiba kann kaum gehen. Als das Wasser stieg, wurde sie sofort in Sicherheit gebracht. Nun lebt sie seit mehr als zwei Monaten in der Schule. Vor einigen Tagen kehrte sie das erste Mal seit langer Zeit in ihr Haus zurück. Doch nichts blieb vom Hochwasser erhalten, sogar die Farbe an den Wänden ist verschwunden. Sakiba erinnert sich: „Du stehst vor dem Haus und kannst nicht glauben, dass diese Ruine einst dein Zuhause war. Es gibt keine Farbe an den Wänden, nichts ist mehr da. Mein Lieblingsbild zeigte ein wunderschönes Mädchen mit Tränen auf ihren Wangen. Jetzt spüre ich den Schmerz dieses Mädchen, und zwar jeden Tag.“
Im Klassenzimmer nebenan hat Snijezana gerade die Bettbezüge zum Lüften ausgelegt. Sie kam mit ihren Eltern hierher, beide sitzen in Rollstühlen. Sie wurden von Feuerwehrmännern evakuiert. Seitdem müssen sie ohne Toiletten für Menschen mit Behinderungen auskommen, die sie doch dringend bräuchten. Snijezana kümmert sich 24 Stunden am Tag um ihre Eltern. Daher kann sie nicht arbeiten und kämpft mit zunehmenden finanziellen Problemen. Essen und Medizin für ihre Eltern bereitzustellen wird immer mehr zur Herausforderung. „Wir haben alles verloren. Ich bin für jede Hilfe dankbar. Die Mitarbeiter von CARE waren die Einzigen, die hierher kamen und uns zuhörten.“, sagt die 40-jährige Frau.
Seit Wochen werden die Bewohner der Schule von einer kleinen Gruppe ihrer Gemeinde unterstützt. Einmal am Tag bekommen sie warmes Essen aus Dosen, doch ist das nicht genug, um den Hunger zu stillen. Daher wird CARE, mit der Unterstützung einer lokalen Partnerorganisation, in den nächsten zwei Wochen frisches Gemüse, Obst, Milch, Fleisch und andere Lebensmittel an die Familien verteilen. Doch was passiert danach? Niemand weiß es.
Am 1. September enden die Sommerferien in Bosnien und Herzegowina. Dann müssen Sakiba, Snijezana und ihre MitbewohnerInnen die Schule verlassen, um Platz für die Schulkinder zu schaffen. Ihre Häuser werden bis dahin nicht trocken sein. Die Feuchtigkeit ist zu hoch und die Region wird fast täglich von neuen, schweren Regenfällen und Stürmen getroffen. „Wir befinden uns in Zeiten der Ungewissheit, doch das Leben geht weiter. Ich bin davon überzeugt, dass wir eines Tages in unsere Häuser zurückkehren können. Das gibt mir Kraft um auszuharren, auch, wenn es lange Zeit brauchen wird, bis wir uns erholt haben.“, sagt Skiba.