Es waren Bilder voller Leid, die die Welt in Atem hielten. Die Bilder zeigten Menschen, vor allem Jesiden, Christen und Angehörige anderer Minderheiten, die aus ihrer Heimat Sindschar und Gegenden um Mosul im Irak flohen. Zehntausende liefen durch Staub, Sand und Hitze, auf ihren Rücken trugen sie Verletzte, Kinder und Alte. Hinter ihnen lagen tagelange Fußmärsche.
Ich arbeite seit über zehn Jahren in dieser Region und habe in dieser Zeit großes Leid und viel Schrecken zu Gesicht bekommen. Aber das, was im letzten Jahr geschah, was mir die Menschen im Sommer 2014 berichteten, offenbarte eine Grausamkeit, die ihresgleichen sucht.
Im August 2014 hatten in Zakho im Nordirak unzählige Jesiden in unfertigen, teils fünfstöckigen Rohbauten Schutz gefunden. Es gab keine Toiletten, keinen Strom, kein fließendes Wasser. Die Atmosphäre war dunkel, fast gespenstisch. Oft habe ich mich gefragt, was die Menschen wohl auf ihrer Flucht erlebt haben müssen, um sich in einer so apokalyptisch anmutenden Umgebung geschützt zu wägen.
Hadi, ein jesidischer, etwa 13-jähriger Junge, saß scheinbar reglos auf dem nackten Boden. Er erzählte mir seine persönliche Geschichte des Grauens: Warum alle Jesiden so plötzlich ihre angestammte Heimat Sindschar, eine abgelegene Bergregion nahe der syrischen Grenze, verlassen hatten, um sich zu retten. Wie terroristische Gruppen den Menschen in seinem Dorf befahlen, sich in einer Reihe aufzustellen. Wie er Schüsse hörte und aus dem Augenwinkel sah, wie Menschen zu Boden fielen. Sie wurden hingerichtet und in einen Graben gestoßen. Er verlor das Bewusstsein. Als er aufwachte, wusste Hadi nicht, wo er ist. Er wachte auf unter Toten, die ihm das Leben gerettet hatten. Auch sein Vater und seine Brüder lagen regungslos neben ihm. Während er mir seine Geschichte erzählte, war Hadis Blick auf den Boden gerichtet und mit seinen Händen spielte er nervös an seiner Trainingshose. „Warum habe gerade ich überlebt?“, fragte er mich verzweifelt.
Mir fielen keine Worte ein, die Trost spenden könnten.
Ein Jahr später gibt es noch immer erhebliche Versorgungsengpässe hier. Viele Menschen tragen die traumatischen Erlebnisse mit sich, können nicht hinwegkommen über das Erlebte. Im Bersive Camp nahe der türkisch-irakischen Grenze zum Beispiel schlafen die Menschen noch immer auf Kieselsteinen. Das ist nicht nur unbequem und schmerzt in den Knochen, es ist auch gefährlich. Mütter sorgen sich vor allem um ihre Neugeborenen, die etwa von Skorpionen gestochen werden könnten.
Aber für bessere Flüchtlingsunterkünfte fehlen die notwendigen finanziellen Mittel. Die internationale Hilfe für die irakischen Vertriebenen ist drastisch unterfinanziert. Gewaltsame Angriffe halten das Land und seine Menschen weiterhin fest im Griff. Die Vereinten Nationen geben an, dass mehr als acht Millionen Menschen – Flüchtlinge, Gastfamilien und andere Gruppen – im Irak Hilfe benötigen. Dennoch gibt es auch leise Hoffnungsschimmer hier in der Region Kurdistan. Die Kinder gehen wieder in die Schule, in Flüchtlingscamps entstehen Märkte, wer möchte, kann dort Besorgungen und Einkäufe fürs tägliche Leben machen. Vor allem aber herrscht eine Stimmung des Wartens. Die Menschen sagen, dass sie ausharren wollen, bis sie in ihre Heimat zurückkehren können.
Heute, ein Jahr nach dem Exodus aus dem Sindschar, erinnere ich mich an die Bilder, die Zeugnisse des Schreckens sind. Ich erinnere mich an das Unvorstellbare, an das, was die Flüchtlinge erlebt haben. Mich lassen diese Bilder nicht los.