Gagamari war einst ein beschauliches Örtchen. Das Dorf im Osten des Niger ist 12 Kilometer von der nigerianischen Grenze entfernt. Hier, im Herzen der westafrikanischen Sahelzone, kämpfen die Menschen jeden Tag mit Hunger und chronischer Armut. Seit Herbst 2014 teilen die Menschen von Gagamari nun das Wenige, was sie haben, mit hunderten von Flüchtlingen, die vor der anhaltenden Gewalt im Norden Nigerias geflohen sind. Notdürftige Hütten, die keinen Schutz vor der gleißenden Sonne und den Sandstürmen des Sahels bieten, sind das temporäre Zuhause der Geflüchteten geworden.
Die 17-jährige Fana Mouctar trägt einen leuchtend blauen Schleier, der auch ihren Körper bedeckt. Ihre Hände ruhen darunter, während sie uns ihr Schicksal schildert. Sie hat kleine Pausbacken und wirkt schüchtern. Am 24. November 2014 veränderte sich Fanas Leben von einem Tag auf den anderen. Sie lebte mit ihrer Familie in der Stadt Damassak in Nigeria. Ihr Vater arbeitete als Tierarzt und Bauer. Als 2014 in einer Schule in Chibok hunderte Mädchen entführt wurden, blieben Fana und ihre Schwestern fortan zu Hause. Ihre Eltern hatten Angst.
An dem Tag im November marschierten bewaffnete Gruppen in Damassak ein und begannen wahllos zu schießen, plünderten Geschäfte und Häuser und verbreiteten Angst. „Wir hörten Schüsse ganz in der Nähe unseres Hauses und zusammen mit meinen vier Schwestern versteckte ich mich hastig unterm Bett. Unser Vater war außerhalb der Stadt, um sich sein Gehalt auszahlen zu lassen. Plötzlich stürmte eine Horde bewaffneter Männer in unser Haus und durchsuchte jede Ecke.“ Fana und ihre Schwestern wurden entdeckt und in das Rathaus geschleppt, wo sie und viele weitere junge Frauen festgehalten wurden. Sie hatten panische Angst. Auf dem Weg dorthin mussten die Mädchen grausame Szenen mitverfolgen: Auf einem öffentlichen Platz hatte man Jungen und Männer im Alter von elf bis 30 Jahren zusammengetrommelt und der Reihe nach erschossen. Fana musste mit ansehen, wie ein Nachbar ermordet wurde.
Die Zeit, die Fana in Gefangenschaft verbrachte, glich einem Alptraum. Jeden Tag wurden mindestens zwei Mädchen der Gruppe entrissen und mit Kämpfern verheiratet. Sie erhielten eine Mitgift und wurden anschließend wie Vieh auf dem Markt abgeführt. Doch Fanas Schicksal nahm eine unerwartete Wende. Der für sie vorgesehene Ehemann war nicht in der Stadt und Fana musste Tage und Wochen ausharren. Eines Morgens wachte sie völlig panisch auf, rang um Atem, schrie und schlug wild um sich. Ihre Entführer brachten sie in ein nahegelegenes Krankenhaus. Dort ergriff sie ihre Chance zu fliehen. Sie hatte einen Nachbar wiedererkannt, der im Krankenhaus arbeitete und mit seiner Hilfe gelang ihr die Flucht. „Zwei meiner Schwestern hatten vorgetäuscht, dass sie schwanger seien und konnten ebenfalls fliehen. Aber von meinen anderen beiden Schwestern, die gerade einmal fünf und acht Jahre alt sind, fehlt weiterhin jede Spur.“
„Dass wir noch am Leben sind, ist unser großes Glück”, sagt Abba K. Mouctar, Fanas Vater und meldet sich erstmals auch zu Wort. Seine sieben Kinder, deren Gesichter von Staub bedeckt sind, haben sich um ihn versammelt. Abba ist ein selbstbewusster Mann, der immer auf eigenen Beinen stand und seine Familie versorgte. „Nigeria ist ein Land der Möglichkeiten, ein Land der Ingenieure und Bauern. Doch ich erkenne mein Land nicht wieder. Schauen sie sich nur an, was meine Familie und ich jetzt für ein Leben führen. Es fehlt uns an allem. Wir haben keine Toiletten und verrichten unsere Notdurft draußen“, erzählt Abba beschämt. Die Familie hat mittlerweile humanitäre Hilfe bekommen: Matratzen und Küchenutensilien sowie Seifen und einen Eimer. „Wir kommen trotzdem kaum über die Runden“, erzählt Abba resigniert. „Der Wind peitscht einem hier unentwegt in das Gesicht, tagsüber macht sich in unserem Zelt eine unerträgliche Hitze breit. Wir wollen ein anständiges Haus bauen, das uns mehr Schutz bietet und müssen nun Holz sowie Stroh für das Dach beschaffen. Doch wovon?“
Die Flüchtlingsströme von Nigeria in den Osten des Niger halten weiter an. CARE hat seine humanitäre Hilfe deshalb ausgeweitet, um sowohl geflohene Familien als auch die Gastgemeinden zu unterstützen. CARE verteilt Nahrung, Haushalts- und Hygieneartikel, sowie Bargeld. Ein Nothilfeteam ist in der gesamten Region tätig: Die Helfer reparieren Wasserstellen, versorgen die Flüchtlingscamps mit Trinkwasser und bieten den Flüchtlingen Transport von der Grenze in eines der zwei Flüchtlingslager. Seit April 2015 hat CARE bereits fast 72.000 Menschen in der Region Diffa, in Niger, mit notwendigen Hilfsgütern erreicht.